12. Januar 2021

Harald und der weihnachtliche Besucher



Es begab sich dazumal... nee, Quatsch! Ist erst ein paar Tage her! 

Harald saß allein daheim. In seinem Wohnzimmer. Er hatte eine Katze, die er schon so ungefähr ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte, und gerade jetzt irgendwie vermisste. Vermutlich, weil es sehr kalt draußen war. Früher war die Katz' auf seinen Schoß gesprungen, und das hatte seine Beine gewärmt. Jetzt hatte er ein Kissen auf den Beinen liegen. Hielt auch gut warm. Also, wenn die Heizung funktionieren würde. War auch keine richtige Heizung, nur so ein Teil, das man in die Steckdose stöpseln konnte, wenn man denn Wärme brauchte. Aber das Teil muckte, und da war nix mehr mit Aufheizen. Eine Decke hatte er über Kopf und Schultern gezogen, weil die meisten seiner Pullover und seine dicke Jacke irgendwie abhanden gekommen waren. Er wusste nicht mehr genau wann, aber er konnte sich an das Wo erinnern: im Waschkeller. Da hatte er das Winterzeugs nämlich aufgehängt, vor gar nicht allzu langer Zeit. Aber als er nach ein oder zwei Wochen alles abhängen wollte, war nichts mehr da gewesen. Wenigstens hatte er noch seine Pantoffeln. Gut, die zog er so gut wie nie aus, außer er ging auf's Sofa pennen. Also wie sollten die schon abhanden kommen?

So, jedenfalls geht's jetzt los: 
Harald saß also in seinem eiskalten Wohnzimmer, und jetzt war schon Weihnachten. Also Winter. Somit auch kalt draußen. Ach so, zur Info: Harald wohnte nicht in Australien, also war es definitiv kalt draußen. Winter halt. Hatte ich das schon gesagt? Gut, jedenfalls fror Harald sich fast den Hintern ab. Unter der Decke bibberte er. Was ihn warm hielt, war ein Schlückchen Bier oder - wie jetzt in der festlichen Zeit - auch mal ein Glühwein. Aber der war ja anfangs immer so scheiße heiß, das man sich die Zunge verbrannte. Dann nach ein paar Minuten in der kalten Stube schon wieder nur pisswarm. Da wusste er dann auch nicht genau, was er machen sollte.
Er hatte die Glotze eingeschaltet und hoffte auf guten Unterhaltungswert, damit ihm wenigstens innerlich irgendwie warm werden würde. Die paar Programme, die er empfangen konnte, boten nicht das, war er sich erhofft hatte. Also einfach mal irgendwas laufen lassen, Hauptsache er fühlte sich nicht allein. So Stimmen von anderen Menschen taten ja auch mal ganz gut, sonst hörte er nur sich selber murmeln.

Es war gegen halb sieben abends, als Harald dann so durchgefroren war, das er sich dachte:
'Ich lauf jetzt mal ein bisschen rum. Das wird mir gut tun.'
Noch einen großen Schluck aus der Bierpulle, einen trockenen Keks danach, und mit Elan sprang er von seinem Sessel auf. Das Kissen kullerte gen Fernseher, und die Decke ließ er gekonnt auf den Sessel gleiten. Doch kaum von der Decke unverhüllt, wurden die Hände steif vor Kälte. Er trampelte förmlich auf dem Boden. Er hüpfte. Er sprang in die Höhe - und hörte es in den Gelenken knacken. Egal! Er lief im Raum umher, umkreiste den Fernseher einige Male, den Sessel, das kleine Sofa, ab in die Küche, wieder zurück, alles von vorn. Aber warm wollte ihm einfach nicht werden. Dann die zündende Idee:
"Wenn ich jetzt vor die Tür gehe ist es arschkalt. Wenn ich dann zurück in die Bude komme, ist es fast warm!"
Jahaha, ein kluger Gedanke, denn rein physikalisch gesehen bringt das so ziemlich nichts. Aber nun gut, Harald zog seine Ausgehschuhe über (die hatte er mal über's Internet geschenkt bekommen... also nicht das er selber Internet hätte, geschweige denn einen Computer) und begab sich vor die Haustür. Praktsicherweise wohnte er ebenerdig, musste also keine Treppen gehen. Die wären ihm gerade jetzt sehr gelegen gekommen, aber man kann ja nicht alles haben.

Vor der Tür fror er so bitter, das er kaum atmen konnte. Harald rannte im Kreis, lief Schlangenlinien und versuchte sich auf Formen im Schneematsch zu konzentrieren: ein Dreieck, ein Viereck, einen Kreis. Von den Bäumen im Vorhof tropften dicke, dreckige Tropfen. Sie klatschten ihm auf den fast kahlen Kopf, aufs Gesicht und in den Nacken. Ekelhafte Sache das!
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er genug davon und kehrte in seine Wohnung zurück. Und siehe da: es war noch genauso kalt wie zuvor auch schon!
Harald bewegte die Finger und Zehen - anspannen, entspannen, anspannen, entspannen... wärmer wurde es deswegen auch nicht. Er stellte den Herd an und setzte sich einen Glühwein auf. Während er die Hände über die warm werdende Herdplatte hielt, knabberte er nebenbei immer wieder einen Keks.
Die Krümel hingen ihm immer wieder in den Zahnlücken fest, und er versuchte sie mit der Zunge zu fassen.
Kaum hatte er den heißen Trunk in die Tasse gefüllt, erklang plötzlich ein heftig lautes Gerumpel oberhalb seiner Wohnung. Harald erschrak zuerst, dachte sich aber dann nichts dabei. Die Dame über ihm war kräftig gebaut, und manchmal polterte sie gegen die Möbel. Das war nichts Neues. Manchmal war es allerdings bedenklich, und er ging nachsehen, ob alles in Ordnung war. Sie waren auf jeden Fall gute Nachbarn. Oder eher Freunde, könnte man sagen. Sehr gute. Nicht, das es gefunkt hätte, jedenfalls nicht von ihrer Seite aus. Jedenfalls kam das Harald so vor. Da über die Weihnachtstage ihre Familie zu Besuch war, ging er einfach davon aus, das alles paletti war. Oder sollte er reinstürmen und nachfragen? Nee, sicher nicht. 

Im Fernsehen lief ein Actionfilm. Genau das Richtige für die weihnachtliche Stimmung. 
"Besinnlichkeit ist für Trottel," ertappte er sich bei dem Gedanken. Obwohl er tief in sich drin eigentlich lieber ein Trottel sein wollte.
Er nahm einen großen und - autsch! - heißen Schluck aus seiner Tasse. Ein bißchen Zucker wäre gut, dachte er, um die Stimmung zu heben. Oder jedenfalls um den scheußlich bitteren Geschmack des Glühweins zu übertünchen. 
Es klingelte an der Tür.
Harald reagierte nicht. Konnte ja sonstwer sein. Er hatte einfach keine Lust. Es war mittlerweile nach acht, und da konnten ihn alle mal. Naja, eigentlich hätte er sich über Besuch gefreut, aber ihn besuchte nie jemand. Wenn jemand klingelte, dann nur um zu fragen:
"Hast du noch Tabak übrig?"
"Hast du vielleicht noch ein Bier für mich?"
"Kannst du mal grade nach meiner Waschmaschine gucken, die ruckelt so."
"Bei mir geht kein Strom - bei dir auch nicht?"
"Könntest du mir dies oder das leihen?"
Normalerweise machte er das. Aber nicht heute. Es war Weihnachten, und er wollte seine Ruhe. 
Doch das Läuten an der Tür riss einfach nicht ab. Immer wieder, in kurzen Intervallen, bimmelte es. Es war so ohrenbetäubend nach einer Weile, das Harald sich auf nichts mehr konzentrieren konnte - nicht mal mehr auf die Kälte. Und so stand er auf und schlurfte, in seine Decke gehüllt, zur Eingangstür. 

Harald traute seinen Augen nicht: vorm Haus stand ein fast nackter, dickbauchiger Kerl mit einem enormen, weißen Bart! 
"Ähm, hallo Harald," sagte der Typ mit tiefer Stimme. "Darf ich mal kurz eintreten und mich bei dir aufwärmen?"
Harald war total baff und wusste nicht, was er antworten sollte. Eigentlich hätte er schreiend davonrennen wollen, aber irgendwas lag in dieser Stimme, das ihn einfach nur eine Geste machen ließ: nämlich auf die Tür zu seiner Wohnung zu deuten.
Der fette Halbnackte stakste geradwegs in Haralds Wohnzimmer. Dort stand er eine Weile unsicher rum. Nur in langen Unterhosen und in einem langärmeligen Unterhemd. Dann sagte er grinsend:
"Deine Decke könnte ich jetzt gerade sehr gut brauchen!"
Harald gab ihm die Decke. Der Dicke mummelte sich ein und setzte sich aufs Sofa. Nach einer Weile hauchte er in seine Hände, rieb sie und sagte:
"Du hast nicht vielleicht etwas, das ein wenig mehr wärmt?"
Harald - ohne zu antworten - kletterte hinter das Sofa und kramte in einem kleinen Karton. Davon hatte er einige, die allesamt hinter der Couch standen. Mittlerweile wusste er selber nicht mehr so genau, was er darin verstaut hatte.
Schließlich stellte er eine Kerze auf den kleinen Sofatisch und zündete sie an. 
"Ich kann dir sonst nur noch einen Glühwein anbieten. Oder einen Tee."
Lächelnd antwortete der Fremde: "Ein Tee wäre prima!"
Harald ging um die Ecke zum Herd, kehrte jedoch direkt wieder um:
"Halt' mal deine Hände hier über die Platte. Ich such mal was zum Anziehen in der Zeit."
Der Dicke stand erstaunlich flink vom Sofa auf, legte die Decke mit einigen knappen, scheints gekonnten Griffen zusammen, und tat wie ihm Harald gehießen.
Harald stand derweil ratlos vor dem sehr schmalen Kleiderschrank. Viele wärmende Klamotten waren ihm ja nicht geblieben. Er hatte lediglich eine Handvoll an T-Shirts und Socken, drei Hosen, und einige dünnere, langärmelige Pullis. Alles lag durcheinander. Er zog einen der langärmeligen heraus und überreichte dem Unbekannten den Pulli mit den Worten:
"Was Wärmeres hab' ich nicht, tut mir leid."
Die Hände reibend von der Herdplatte entfernend, nahm der Dicke lächelnd den Pulli entgegen und quetschte sich hinein. Der Pulli blieb zwar über seinem Bauch hängen, dennoch stand ein Grinsen auf seinem Gesicht.
"Danke, Harald, das ist wirklich sehr nett von dir!"
Harald goss das heiße Wasser auf einen Beutel Tee und überreichte die Tasse dem Fremden.
"Wie heißt du eigentlich?" fragte er.
"Werner."
"Und was ist passiert? Also ich meine... " Harald sah ein wenig unsicher gen Boden, "das du nur so in Unterwäsche hier stehst?"
"Das, lieber Harald, wirst du noch früh genug erfahren," antwortete der Dicke und lachte leise.
Das beruhigte Harald in keiner Weise. Aber beunruhigt war er auch nicht. Dieses nette, pausbackige Gesicht, das nette Lachen, die sanfte, tiefe Stimme... was konnte er schon befürchten? 

Die beiden saßen im Wohnzimmer. Naja, also jedenfalls in dem Raum, der nicht die Küche war. Werner sah sich eine Weile um. Schließlich seine Frage:
"Eine komfortable Wohnung ist das nicht, was meinst du?"
Harald nahm einen Schluck Bier und zuckte die Achseln.
"Eigentlich war's mal 'ne Garage. Der Vermieter hatte dann aber die Idee, eine Mini-Wohnung daraus zu machen. Für arme Schweine. Gewonnen hab' ich."
Der stetig lächelnde Fremde zog eine Augenbraue hoch:
"Arme Schweine?"
"Ich war viele Jahre obdachlos. Ich wollte auch gar keine Wohnung. Sonst hätte ich Stütze beantragen müssen. Das wollte ich nicht."
"Aber du hast die Bude bekommen! Wie ging das?"
Das Interesse klang aufrichtig. Aber Harald offenbarte sich nicht gerne. So schwieg er.
"Sag mal," unterbrach nach einigen Minuten Werner die Stille, "hast du noch ein paar Kekse?"
"Na klar!" sagte Harald erleichtert. Er stand auf, ging zur Kochnische, friemelte rum, und überreichte Werner ein kleines Schälchen mit trockenen Keksen. "Die sind von meiner Nachbarin."
Werner knabberte eine Weile, trank Tee und sagte:
"Wieso also hast du diese Bude bekommen?"
Haralds Unwohlsein stieg ins Unermessliche. Er wurde ein wenig unleidlich und antwortete unwirsch:
"Was interessiert's dich?"
Werner hob abwehrend die Hände.
"War nur eine Frage. Wenn du nicht darüber sprechen willst... Ich werde dich nicht zwingen."
Harald trank einen großen Schluck Bier, stand auf, um sich eine neue Flasche zu holen und fühlte sich elend. Er wandte sich um und sagte:
"Tut mir leid, Werner. Ich... ich rede nicht gerne über mich."
"Schon gut, mein Lieber, nur keine Panik! - Hättest du noch einen Tee für mich?"
"Wollen wir nicht zusammen einen Glühwein trinken? Dann können wir die Hände auch wieder aufwärmen..."

So standen Harald und Werner eine Weile schweigend an der Herdplatte und wärmten ihre durchgefrorenen Finger. Als sie nippend den ersten (scheißeheißen) Schluck Glühwein tranken, grinsten sie sich an.
"Also gut," sagte Harald, während er sich neben Werner auf dem Sofa niederließ. Er griff nach der Decke, die er beiden über die Beine legte. "Wenn du es wirklich wissen willst, erzähle ich es dir. Aber dann erzählst du mir, warum du hier in Unterwäsche hockst!"
"Abgemacht!" antwortete Werner, und erhob seine Tasse zu einem Salut.
"Meine Frau hat mich verlassen, nachdem sie eine Fehlgeburt hatte. Ich bin dann nicht mehr zur Arbeit gegangen. Ich hab' so ungefähr acht Jahre auf der Straße gelebt. Konnte nix mehr machen... "
Harald unterbrach sich und nahm einen langen Schluck. Als käme dann der Mut zurück.
"Und ich kann auch jetzt nix machen. Ich tauge für gar nichts..." fuhr er langsam fort. "Ich hab' immer mal hier gepennt und mal da. Wenn irgendwo eine Teestube oder irgendwo was von der Kirche angeboten wurde. Oder wenn ein Bekannter meinte, ich könnte mal eine Weile unterkommen."
Er hielt erneut inne. Betroffen sah er gen Boden. Er traute sich nicht, Werner anzusehen.
"Und dann bin ich fast gestorben. Es war echt scheißekalt. Mir gings nicht gut, war wohl unterzuckert oder sowas. Jedenfalls war da im Krankenhaus eine Pflegerin. Die kannte die Julie. Das ist meine Nachbarin oben drüber. Sie meinte, ich könnte hier einziehen. Und jetzt bin ich hier."
Nach einem Moment sagte Werner:
"Du könntest was Besseres finden."
"Ja... nein," sagte Harald. "Ich will nicht. Wer kümmert sich um die Katze? Und wer sieht nach Julie?"
"Die Katze ist doch schon lange weg, Harald," sagte Werner - und ein Schauer lief Harald den Rücken runter.
"Woher... ?" rief er leise und sprang auf. Zum Glück war seine Tasse fast leer, sonst wäre alles übergeschwappt.
"Ich weiß so einiges. Du sagtest doch, das du mir deine Geschichte erzählst, und dann erzähle ich dir meine. Also setz' dich einfach wieder hin."
Werner zwinkerte lächelnd, und seine Wangen schienen noch pausbackiger und rötlicher zu sein als vorher. Ein Leuchten lag in seinen Augen, das Harald schon fast Angst einflößte.
"Ich hol' mir noch ein Bier," sagte Harald. "Und muss mal kurz aufs Klo."

Diesmal ließ Harald sich nicht neben Werner auf dem Sofa nieder, sondern setzte sich wieder in seinen Sessel. Ein bißchen Abstand wollte er haben, denn das war ihm irgendwie gruselig. Also die ganze Situation. Also ehrlich! Ein halbnackter, dicker Kerl, der total die Ruhe weg hatte und gar nicht zu frieren schien (obwohl er das behauptete), und der irgendwie... naja, eben einfach seltsam war.
"Du hast ein Recht auf meine Geschichte, Harald," begann Werner.
Nun war Harald gespannt - aber vor allem nervös. Anfangs hatte er gedacht, das Werner auch einer von seinem Schlag war. Eben einer, der Hilfe benötigte. Doch jetzt war er sich nicht mehr so sicher.
"Mir ging es wie dir. Naja, nicht ganz so, aber ähnlich." Werners tiefe, aber immerzu freundliche Stimme, bei der man das Lächeln förmlich hören konnte, durchdrang die Stille. "Ich hatte eine Frau, ich hatte Kinder. Das Glück war perfekt, bis ich eines Tages aufwachte und sah, das es so viele Menschen in der Welt gibt, die gar nichts haben. Ich wollte nicht leben mit dem Wissen, das die einen so viel Glück haben, so viel Reichtum, so viel Macht - und die anderen haben gar nichts. Nicht mal ein Bett zum Schlafen und etwas zu essen. Ich wurde krank ob all dieser Gedanken und Zweifel... ich bekam Depressionen. Meine Frau dachte es wäre besser, eine Auszeit zu nehmen. Und sie nahm unsere Kinder mit."
Werner machte eine kurze Pause, um an seinem Tee zu nippen.
"Und dann nahm ich mir das Leben. Ich konnte es nicht ertragen, ohne meine Familie zu sein. Ich wollte nicht ohne sie sein - und mit ihnen ging es auch nicht."
Harald stockte der Atem. Das war doch ein Märchen!
"Doch der Haken hielt nicht... ich krachte zu Boden... und mein Nachbar hörte den Knall. Er brach die Tür auf und stürmte in meine Wohnung, band mich von dem Seil los und rettete mein Leben. Er zeigte mir, das es Nächstenliebe gibt. Und so entschloss ich mich, anderen Menschen zu helfen. Menschen in Not, die verzweifelt sind. Die alleine sind. Alleine wie du, Harald."
"Du bist doch kein Geist?" fragte Harald und glaubte selber nicht, was er da losließ.
Werner lachte.
"Nein! Natürlich nicht! Und ich bin auch nicht der Weihnachtsmann!"
Harald nickte. Das war ja mal klar. Wäre ja auch zu schön gewesen.
"Aber ich bringe denen frohe Kunde, die sich um andere sorgen."
Jetzt war es an Harald, die Augenbraue hochzuziehen.
"Ich weiß, lieber Harald, das dir andere nicht einfach am Arsch vorbeigehen. Und ich weiß auch, das du hier niemals ausziehen würdest, da du zu viel Angst um Julie hast. Diesen Brief soll ich dir überbringen. Dies ist mein Auftrag - was du damit anfängst, bleibt dir überlassen."
Werner erhob sich und drückte Harald einen Briefumschlag in die Hand.
"Ich mache mich wieder auf den Weg. Es gibt noch einiges zu tun. Deinen Pulli bekommst du natürlich wieder..."
Als Werner auf die Wohnungstür zusteuerte, rief Harald:
"Moment mal!"
Werner sah sich zu ihm um.
"Du hast mir nicht erzählt, warum du halbnackt hier gelandet bist!"
Werner kicherte und sagte:
"Nur fair, das bin ich dir schuldig."

Nachdem der Glühwein heißgemacht war und die beiden wieder gemeinsam unter der wärmenden Decke auf dem Sofa saßen, erzählte Werner seine Unterwäschen-Geschichte:
"Ich hatte also den Auftrag, dir diesen Brief auszuhändigen. Heute. Punkt acht Uhr. Leider habe ich daheim einen Anflug von extremer Müdigkeit erlitten, nachdem ich einen Punsch getrunken hatte. Um genau zu sein: ich bin vor der Glotze eingepennt."
Harald konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, denn zu gut konnte er sich Werner vorstellen, wie er selig grinsend, die Füße hochgelegt, in einem Sessel vor sich hindöste.
"Ich bin gerade noch rechtzeitig aufgewacht - vermutlich von der Ballerei im Fernsehen. Ich schnappte mir den Brief und lief zum Auto. Harald, es ist kein Geheimnis: ich bin ein Schussel. Ich habe manchmal so viele Dinge im Kopf, das ich immer irgendwas vergesse. Erst während der Autofahrt wurde mir bewusst, das ich gar nicht angezogen war. Aber ich war sowieso schon zu spät, also kehrte ich nicht nochmal um. Doch zu allem Überfluss hatte ich natürlich vergessen zu tanken. Meine Karre blieb dann auf halber Strecke stehen und so lief ich den restlichen Weg zu dir. Und jetzt bin ich hier."
Harald nickte.
"Okay... das erklärt einiges. Aber nicht, wer dir den Brief gab."
Werner erhob sich, reckte sich und sagte:
"Lies ihn einfach. Alles weitere wirst du im Laufe des Abends erfahren. Ich jedenfalls muss jetzt los. Muss noch bei einer Familie als Weihnachtsmann auftreten - aber dafür sollte ich mich wohl anziegen." Werner zwinkerte.
Sie gaben sich die Hände und Harald begleitete Werner zur Tür.
"So, nun solltest du den Brief lesen," sagte Werner zum Abschied. "Danke für den Tee, den Pulli und die Kekse. Gehab' dich wohl und frohe Weihnachten!"
"Sehen wir uns wieder?"
Werner lächelte: "Lies den Brief."
"Dann mach's gut, Werner. Frohe Weihnachten!"
Nachdem Harald - bei einem letzten Schlückchen Bier - den Brief gelesen hatte, saß er unbeweglich da. Er konnte gar nicht glauben, was da geschrieben stand:

"Lieber Harald,

vielleicht konntest Du es Dir schon denken, aber ich habe mich nie getraut es Dir zu sagen: Es ist nicht allein unsere Freundschaft, die mir viel bedeutet, es ist die Freundschaft mit Dir, die mir Halt gibt. 

Ich bitte Dich, Weihnachten mit mir und meiner Familie zu verbringen! Nein, ich bitte Dich nicht, ich wünsche es mir!

Ich liebe Dich! 

Julie

P.S.: was denkst Du, warum ich Dir den Zweitschlüssel gegeben habe? Du bist hier ebenso zu Hause wie ich, Du großer Dummi!"

Sollte er jetzt wirklich einfach nach oben gehen? Er hatte ja nicht mal was Nettes anzuziehen. Aber naja, wenn sie es sich wünschte, wer wäre er, ihr diesen Wunsch zu verwehren?
Noch während er die Stufen in die nächste Etage stieg, spürte er die Nervosität unaufhaltsam in sich aufsteigen. Er atmete einige Male tief ein und aus, ehe er klingelte.
Es dauerte keine halbe Minute, dann öffnete Julie. Sie strahlte ihn an und sagte:
"Komm rein, Harald! Ich freue mich so sehr, dich zu sehen!"
"Hallo Julie. Ich... ich... habe aber gar kein Geschenk dabei..."
Julie grinste ihn an und schüttelte lachend den Kopf. Mit einer Hand winkte sie ab.
"Leute, das ist Harald," stellte sie ihn vor.
Um einen Tisch herum saßen einige Leute. Ihre Mutter, ihre Schwester, deren Mann, ein Jugendlicher mit dem Kopf über'm Handy, eine Tante, ein Onkel. Julie stellte sie der Reihe nach vor. Schließlich sagte sie:
"Es fehlt nur noch mein Bruder, aber der wird sich vermutlich verspäten. Das ist typisch für ihn." 
Die anderen nickten zustimmend. 
"Ja, der kommt immer zu spät. Ständig vergisst er was oder hat noch Termine."
Harald ließ sich am Tisch nieder. Ein wenig unsicher sah er sich um. Obwohl er Julies Wohnung mittlerweile in- und auswendig kannte, sah heute Abend alles anders aus. Festlich geschmückt und sehr gemütlich. Das Essen war aufgetischt, alle griffen ordentlich zu (und selbst der Teenie legte sein Mobilteil mal für eine Weile zur Seite), und zu trinken gab es auch eine Menge.

Harald vergaß die Zeit. Nach dem Essen ließen sich alle in der lauschigen Sofa-Ecke nieder und unterhielten sich über alles mögliche. Schließlich ergriff Julie Haralds Hand und zog ihn mit sich in die Küche.
"Du hast meinen Brief also erhalten?"
"Oh ja, sicher," sagte Harald, noch ein wenig unsicher.
"Und bist du schockiert?" Sie lächelte zwinkernd.
"Oh nein, nein, nein, ganz und gar nicht! Ich bin nur... ich weiß nicht..."
Julie nahm auch seine andere Hand in die ihre und gab ihm einen Kuss.
In Haralds Innerem kribbelte es, und er wusste im ersten Moment nicht, was es war. Die vielen Kekse? Oder der Glühwein? Der Wein oder das Bier? Oder doch was ganz anderes? Er tippte auf letzteres.
"Ich bin nur schon so lang allein, das ich nicht weiß..."
Julie nickte.
"Ich verstehe das. Mir geht's nicht anders. Aber wir können uns ja Zeit lassen. Wenn du magst?!"
Harald nickte.
"Wir hatten ja schon Zeit," sagte er, von seinen eigenen Worten überrascht. "Machen wir Nägel mit Köpfen!"
Er zog Julie an sich und küsste sie. Dann sahen sie sich einfach nur an. Als ihr Onkel nach ihr rief, sagte Julie leise:
"So, das wäre das," und kehrte grinsend ins Wohnzimmer zurück.

Schließlich klingelte es an der Tür.
"Aaaahhh!" rief Julies Mutter, "da ist er ja!"
Julie eilte zur Tür, öffnete und rief schon die Stufen hinunter:
"Wer kann das wohl sein um diese Zeit?"
Als der letzte Gast des Abends eintrat, traute Harald seinen Augen nicht: der Weihnachtsmann in voller Pracht! Inklusive dickem Bauch und Rauschebart. Und einem Sack voller Geschenke.
Er begrüßte alle freundlich lachend und machte sich unter dem Weihnachtsbaum zu schaffen. Nach getaner Arbeit trat er ans Sofa heran und sagte:
"Und jetzt bitte einen kleinen Muntermacher. War heute abend schon sehr stressig."
Julie wandte sich an Harald:
"Kennst du schon Werner, meinen Bruder?"

ENDE

© Sodapop Shadow

4 Kommentare:

  1. So eine schöne Geschichte! 💖 Mehr davon bitte!

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  2. Diese Geschichte ist so liebenswert, Kleines. Ich stimme Arden zu. Ich möchte auch mehr davon.

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  3. Vielen Dank an euch beide! Ich werde sehen, ob ich bei themenbezogenen Wochen/Monat eine Kurzgeschichte verfassen kann/will. 😉 Bis dahin war das hier erstmal die Ausnahme. 😜

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    1. Schade. Aber ich freu mich, wenn es dann doch mal wieder soweit ist! 💘

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